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Evolopro – die Evolution der Produktionstechnik

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Forscher:innen haben im Fraunhofer-Leitprojekt Evolopro Elemente der Flexibilität und Selbstanpassung analysiert. Die Projektpartner setzten auf neue, der Biologie nach empfundene Algorithmen.

 

Wie vollzieht die Natur evolutionäre Anpassungen, und was kann die Produktionstechnik von der Natur lernen, um flexiblere Prozesse zu entwickeln? Forscher:innen aus sieben Fraunhofer-Instituten haben im Fraunhofer-Leitprojekt Evolopro verschiedene Elemente der Flexibilität und Selbstanpassung analysiert und auf die Fertigung komplexer Bauteile übertragen. Das Forschungsteam legte damit den Grundstein für eine neue Generation von Produktionssystemen im Sinne eines „Biological Manufacturing Systems“.

 

In der Wirtschaft gibt es vielfältige Gründe für neue Produktanforderungen: Technische Innovationen, gesetzliche Änderungen oder unternehmerische Entscheidungen sind nur einige davon. Üblicherweise führen solche Veränderungen zu Neuauslegungen von Produkten und Produktionsprozessen. Vor allem bei sich rasch ändernden Anforderungen erweist sich dieses zeitaufwändige Vorgehen oft als nicht zielführend, weil die Planung im Grunde immer bei null startet. Informationen und Daten über frühere Produktvarianten und Produktionsprozesse können, nicht zuletzt aufgrund fehlender technischer Infrastruktur, nicht umfänglich genutzt werden.

Die Natur hingegen baut stets auf Bestehendem, also auf vorhandenen „Datensätzen“ auf und vollzieht auf deren Basis evolutionäre Veränderungen. Sie nutzt darüber hinaus alle Anpassungen, ob erfolgreich oder nicht, um aus ihnen Erkenntnisse zu gewinnen, die sie bei weiteren Entwicklungen einbezieht.

Natürliche Evolution als Vorbild.

Im vierjährigen Fraunhofer-Leitprojekt „Evolopro – Evolutionäre Selbstanpassung komplexer Produktionsprozesse und Produkte“, das kürzlich erfolgreich abgeschlossen wurde, analysierten mehr als 50 Forscher:innen aus sieben Fraunhofer-Instituten verschiedene Mechanismen der natürlichen Evolution von Organismen unter sich verändernden Umweltbedingungen und übertrugen diese auf moderne Fertigungsprozesse. Neben der allgemeinen Evolutionstheorie von Charles Darwin schenkten sie der „Theorie der Erleichterten Variation“ besonderes Augenmerk. Diese unterteilt die Fähigkeit zur raschen Anpassung in verschiedene Elemente der Flexibilität, zu denen etwa Modularität und Hierarchie gehören. Die evolutionsbiologischen Elemente und Mechanismen nutzten die Forscher:innen, um eine neue Generation von „Biological Manufacturing System“ (BMS) zu konzipieren. Biological Manufacturing Systems sind fähig, sich wie biologische Organismen selbstständig an neue Anforderungen und Umgebungsbedingungen anzupassen. Sie benötigen dafür allerdings nicht, wie die Natur, mehrere Jahrhunderte. Dank aktueller Errungenschaften der Industrie 4.0, so die These des Teams, können Anpassungen innerhalb kürzester Zeit vollzogen werden. „Das große Feld der Digitalisierung schafft beste Voraussetzungen für die angestrebte produktionstechnische Evolution“, sagt Projektleiter Dr.-Ing. Tim Grunwald vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen.

Motor für die produktionstechnische Evolution.

Für die Umsetzung der Biological Manufacturing Systems setzten die Projektpartner zum einen auf neue – der Biologie nachempfundene – Algorithmen, zum anderen auf datenbasierte Digitale Zwillinge, die mit einer Digitalen Umwelt interagieren.

Der Digitale Zwilling ist das digitale Abbild eines Bauteilindividuums und ermöglicht die digitale Verarbeitung aller bauteilbezogenen Informationen. Die Digitale Umwelt bildet die wichtigsten Anforderungen digital nach, die die reale Umwelt an das Bauteil stellt. Das Projektteam entwickelte ein Konzept für einen mehrstufigen Digitalen Zwilling, das – in abgewandelter Form – auch auf eine mehrstufige Digitale Umwelt übertragen wurde. Beide Konzepte können flexibel in bestehende Softwareumgebungen wie etwa CAM-Systeme integriert werden.

Die biologisch inspirierten „Algorithmen der Erleichterten Variation“ sind teils bestehende, teils im Rahmen des Evolopro-Projekts neu geschaffene mathematische Hilfsmittel, die dem Digitalen Zwilling den Weg der Evolution ermöglichen. Sie operieren im Hintergrund auf einer digitalen Hilfsebene und laufen permanent parallel zum realen Produktionsprozess, um einen kontinuierlichen, datenbasierten Lernprozess zu ermöglichen.

Validierung in drei Produkt- und Prozessketten.

Die Wirksamkeit der Konzepte und Algorithmen wurde an drei Produkt- und Prozessketten erprobt: der Pilotkette „Aviation“, der Pilotkette „Optics“ und der Pilotkette „Automotive“. Alle drei Testreihen schlossen mit Erfolgen und neuen Erkenntnissen ab.

In der Pilotkette Aviation konnte das Projektteam auf Basis der biologisierten Algorithmen und Konzepte eine Simulationsumgebung zur modellbasierten Prozessplanung und -auslegung fertigstellen. Mithilfe dieser sogenannten Testbench konnte das Team den Aufwand für die Prozessplanung und den Einfahrprozess für die Fräsbearbeitung einer Blade Integrated Disk (Blisk) – einer hochkomplexen Turbomaschinenkomponente – sowie einer Variation des Blisk-Designs deutlich senken.

In der Pilotkette Optics gelang es, die Digitalisierung in der Fertigung komplexer Glasoptiken deutlich zu verbessern. So konnte das Team die simulierten Ergebnisse direkt zurück ins Optikdesign und in die Optikmontage einfließen lassen. Indem Planung und Umsetzung deutlich näher aneinandergerückt wurden, steigerte das Team Schritt für Schritt die Flexibilität des Gesamtprozesses. Darüber hinaus entwickelten die Forscherinnen und Forscher ein selbstlernendes Verfahren für die automatisierte Montage optischer Komponenten, das deutlich weniger Arbeitsschritte erfordert als alle bisherigen Montage-Algorithmen.

In der Pilotkette Automotive wurde eine vollständig modellbasiert geregelte Karosseriefertigung errichtet, die das komplette Potenzial einer automatisierten, selbstlernenden Industrie 4.0-Karosseriebau-Anwendung ausschöpft. »Die Pilotketten hatten grundlegend unterschiedliche Anforderungen und Charakteristika. Die erreichten Ergebnisse sprechen demnach für die Universalität des verfolgten Projektansatzes«, zeigt sich Projektleiter Tim Grunwald zufrieden.

Standortübergreifende Datenbearbeitung.

Um die große Menge der gesammelten Prozessdaten aus den drei Pilotketten zentral zu speichern und den Datenaustausch zwischen den Fraunhofer-Instituten zu erleichtern, baute das Projektteam eine sogenannte Data-Lake-Architektur auf. Dabei handelt es sich um eine cloudbasierte Anwendung, die beispielsweise über einheitliche Datenschnittstellen und für jede Domäne spezifische Beschreibungsmodelle – sogenannte Ontologien – zur eindeutigen Zuordnung der hochgeladenen Daten verfügt.

Die neue Cloud-Architektur ermöglichte den Teams einen standortübergreifenden, automatisierten Datenaustausch. Projektleiter Tim Grunwald sieht hier ein besonders großes Potenzial: „In der Produktion sind eindeutig gekennzeichnete Daten oft rar und teuer zu erstellen. Zudem ist es sehr aufwändig, eine Datenbasis auf Grundlage von Simulationen zu erschaffen. Genau hier können unsere technologischen Entwicklungen aus dem Evolopro-Projekt einer direkten wirtschaftlichen Verwertung zufließen“, so Tim Grunwald.

In weiteren, auf Evolopro aufbauenden Forschungsprojekten sollen nun die Konzepte des Digitalen Zwillings und der Digitalen Umwelt noch weiter ausgearbeitet werden. Die erarbeiteten Maßnahmen aus den Pilotketten wollen die Forschungsteams gezielt in Richtung Marktreife und Industrialisierbarkeit weiterentwickeln.

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