
Als Positivspirale bezeichnet Reinhard Birke, General Manager NTT Data DACH AT, die Digitalisierungs- und IT-Prozesse im Unternehmen. Warum er sich keine Sorgen um die Zukunft macht und warum er sich ein anderes Bildungssystem wünscht, erzählt er im Interview.
IoT4industry&business: Herausforderungen gibt es dieser Tage sehr viele für Unternehmen. Was sind aktuell die größten Herausforderungen?
Reinhard Birke: Ich denke, es hängt alles zusammen. Wir leben in sehr unsicheren Zeiten. Das drückt sich in vielen Bereichen aus. Es gibt politische Unsicherheiten, ökonomische Verwerfungen an den Märkten sowie demografische und strukturelle Herausforderungen. Wir haben eine Diskussion über den Arbeitskräftemangel, ganz aktuell über die 40-Stunden-Woche. Wie wollen wir denn mit der Überalterung der Gesellschaft umgehen? Durch Corona ist das Thema Gesundheit dazu gekommen. Und damit befinden wir uns gerade in einer Zeit, in der wir nicht genau wissen, wie es weitergeht. Das trifft die Konsumenten, genauso wie die Unternehmen. Die stehen jetzt nicht mehr da und planen Neues mit großen Innovationsbudgets. Es geht eher darum, Margen und die Produktion abzusichern. Ich muss meine IT-Systeme absichern, weil die Bedrohungen massiv zunehmen. Ich muss nachhaltig produzieren und das nicht nur, weil ich will, sondern weil ich muss. In diesem Umfeld geht es nicht darum, die eine Lösung für alles anzubieten, sondern wir müssen zeigen, wie man vernetzt mit diesen Unsicherheiten umgehen kann, um die Geschäftstätigkeit und die Umsätze zu stabilisieren.
IoT: Mit der Digitalisierung und Automatisierung werden Ängste geweckt, dass es den Menschen in gewissen Bereichen nicht mehr braucht. Was tun mit diesen Sorgen?
Reinhard Birke: Schauen wir doch auf die Alterung der Bevölkerung in Deutschland. Das kann man sicher eins zu eins auf Österreich übertragen. Heute arbeiten dort 59 Millionen Menschen für die Versorgung von 16 Millionen älteren Menschen. Und diese Schere geht weiter zu. In 15 Jahren sind es nur noch 45 Millionen, die für 21 Millionen aufkommen müssen. Wir verlieren pro Generation ein Drittel der Arbeitskraft. Wenn also jemand fragt: Nimmt die KI Arbeitsplätze weg? Dann sage ich: Nein. Ohne KI könnten wir es überhaupt nicht schaffen. Wir müssen uns überlegen, wie wir die Schere zwischen Arbeitskraft und Versorgung für Ältere schließen können. Und dafür haben wir außer Zuwanderung überhaupt noch keine Lösung. Gerade bei den repetitiven Tätigkeiten im Büro, etwa in Excel-Tabellen etwas von A nach B zu kopieren oder Formulare für interne Prozesse auszufüllen, dafür sind doch Programme wie ChatGPT oder Ähnliches prädestiniert. Dadurch wird mehr Zeit frei für Produktivkraft. Mit KI haben wir also überhaupt erst eine Chance, die angesprochene Schere zu schließen. Natürlich ist Technologie nicht die einzige Lösung für das Problem der Demografie. Aber ich denke, dass uns Technologie die Chance gibt, jene Menschen, die im erwerbsfähigen Alter stecken, so produktiv wie möglich einzusetzen.
IoT: Wenn jetzt einfache Tätigkeiten automatisiert werden, gehen Jobs für Menschen mit geringer Bildung verloren.
Reinhard Birke: Es geht nicht nur um die Arbeitsplätze für Menschen mit geringerem Bildungsniveau, sondern KI unterstützt vor allem in Berufen, die sehr viel mit wiederholenden Tätigkeiten und vor allem Wissen- und Informationsabruf zu tun haben. Denken Sie an medizinische Diagnostiker oder Anwälte und Richter. Das sind Berufsbilder mit hohem Bildungsniveau. In ihren Bereichen helfen automatisierte Systeme schon heute dabei Vorschläge zu erarbeiten, aus denen die Experten dann wählen können. Wir müssen uns daher vielmehr die Frage stellen: Sind wir bildungstechnisch auf eine Post-Wissensgesellschaft vorbereitet? Wenn die KI etwas viel schneller, präziser und verknüpfter findet, als wir es überhaupt parat hätten, geht es um die Frage, welche Arten von Bildung brauchen wir? Vielleicht müssen wir in viel kreativere Berufszweige gehen. Wir müssen beginnen, anstatt nach Antworten zu suchen, zu lernen, wie man die richtigen Fragen stellt. Das wird unseren Blick auf die Wissensgesellschaft, wie wir sie kannten, ändern. Das wird wahrscheinlich allen Generationen so gegangen sein, aber ich denke, heute ist die Disruption einfach am größten.
IoT: Wenn man das jetzt weiterdenkt, bleibt am Ende ein sehr einfacher Mensch zurück, wenn die KI sämtliches Wissen übernimmt. Als Mensch werden wir vom Wissen der KI abhängig sein, weil wir unser Wissen verloren haben. Das klingt etwas dystopisch.
Reinhard Birke: Wir müssen unser Bildungssystem komplett neu überdenken. Wir haben Lehrpläne, die über 100 Jahre alt sind und wir lehren den Kindern genau dasselbe, was wir ihnen schon vor 500 Jahren beigebracht haben. Das ist eine Katastrophe, weil sich die Welt komplett verändert hat. Daher sehe ich es überhaupt nicht dystopisch, sondern extrem positiv. Ich denke, dass unsere Wissenszukunft im Humboldtschen Sinne stattfinden muss. Es gibt nicht nur einen Wissenskorridor, sondern eine Landkarte von Möglichkeiten, auf der man für sich selbst herausfinden kann, was einen interessiert. Wir gehen heute in Richtung Wissensindustrie, die uns immer stärker spezialisiert. Dadurch verlieren wir die Möglichkeit der Vernetzung über unterschiedliche Gebiete hinweg. Wenn Sie an die früheren Universalgelehrten, wie Leibniz, Newton oder andere denken, die sind durch eine ganz andere Art von Bildung entstanden. Die Spezialisierung verhindert sehr viel Kreativität. Was uns von KI oder Automatisierungssystemen unterscheidet: Menschen sind kreativ und entlang ihrer Interessensgebiete Suchende und Forschende in der Welt des Wissens. Wenn uns KI dabei unterstützt, aus dieser Spezialisierung wegzukommen, wenn sie uns vom Auswendiglernen hin zu einer interessensbasierten Gesellschaft führt, dann ist das für mich keine Dystopie, sondern ein wunderbares Zukunftsbild.
IoT: Die Pandemie hat digital viel Mögliches und Unmögliches zu Tage gefördert. Dinge, die man sich vorher vorgestellt hat, haben nicht funktioniert. Anderes, über das man vorher nie nachgedacht hat, war plötzlich möglich. Was hat Sie am meisten überrascht?
Reinhard Birke: Für mich gab es zwei große Überraschungen. Das eine war, wie schnell wir den Umstieg ins digitale Arbeiten geschafft haben. Die zweite Überraschung passiert gerade jetzt. Für Menschen in der Mitte der Alterspyramide ist es etwas ganz Tolles und Neues von zu Hause aus arbeiten zu können. Unter den jüngeren Menschen ist das überhaupt nicht der Fall. Die haben in der Pandemie so viele Einschränkungen im sozialen Kontext erlebt, die wollen ins Büro kommen. Gleichzeitig ist es für die Jüngeren aber völlig logisch, dass Homeoffice möglich ist, wohingegen die Älteren das als Errungenschaft betrachten. Das finde ich eine extrem spannende Entwicklung, die ich so nicht gesehen habe.
IoT: Sie bezeichnen IT als Multifunktionswerkzeug. Was meinen Sie damit?
Reinhard Birke: IT passt in sehr viele Schlösser. IT hilft uns in der Nachhaltigkeit genauso wie in der Sicherheit und in der Prozessoptimierung. Wenn Sie etwa ein Securityprojekt einführen, müssen Sie zuerst alle Rollen bereinigen, alle Prozesse anschauen und verschlanken. Dann werden Sie erkennen, dass Sie dadurch auch extrem viele Kosten sparen können und die Prozesse viel nachhaltiger werden. Das heißt: Durch ein IT-Security-Projekt kommen Sie zu resilienteren Prozessen. Und durch diese Prozesse kommen Sie, ganz im Sinne des ökologischen Fußabdrucks, zu nachhaltigeren Systemen. Das heißt, investiere ich in einen der drei Bereiche, bin ich automatisch Nutznießer der Verbesserung der anderen. Denn das passiert automatisch. Sobald ich meine Prozesse resilienter, also weniger anfällig machen möchte, dann muss ich sie robuster machen. Das bedeutet: Ich muss schauen, wo die Schwachstellen sind, über die Energie entweicht. Deswegen finde ich, dass gerade jetzt Investitionen in Smart Operations, IoT, aber vor allem auch in IT-Security so wichtig sind.
IoT: Wenn wir zum Thema Sicherheit kommen: Die Angriffe steigen. Sehr vielen Unternehmen ist das bewusst, dennoch hapert es bei der Umsetzung. Wie kann man diese Lücke weiter schließen?
Reinhard Birke: Es braucht eine Enttabuisierung des Themas. Viele Unternehmen haben Angst vor dem Reputationsschaden und sind bereit, den Angreifern das geforderte Lösegeld zu zahlen. Das ist eine wahnsinnig schlechte Idee, weil die Angreifer dann die Informationen über die Angriffsvektoren ins Netz stellen und der nächste Angriff praktisch bevorsteht. Gleichzeitig geben wir nur sieben Prozent unserer IT-Budgets für Security aus. Dem steht in Deutschland ein Schaden von 403 Milliarden im Jahr gegenüber. Anders ausgedrückt: Wir geben den Angreifern mehr Geld, als wir den Verteidigern geben. Und das machen wir, weil wir Angst haben, dass unsere Marken beschädigt werden. Hier muss es eine Enttabuisierung geben. Es muss möglich sein zu sagen: Ja, wir hatten hier ein Problem – unsere IT war nicht sicher – aber jetzt haben wir alles im Griff. 84 % der Unternehmen sind von Angriffen betroffen, die Dunkelziffer ist sogar um neun Prozent höher. Das bedeutet: Alle sind betroffen! Man hört aber nur von wenigen.
IoT: Sie haben schon Resilienz erwähnt. Die ist zu einem neuen Buzzword geworden. Wie sehen Sie das?
Reinhard Birke: Ich würde es unter dem Aspekt subsumieren, wie widerstandsfähig wir gegen disruptive Veränderungen sind und wie wir reagieren können. Das geht ja dann auch ins Persönliche. Wie kann ich meine eigene Widerstandsfähigkeit stärken. Vielleicht indem ich mich selbst und meine Stärken stärke? Ich würde mir in Österreich, aber auch in Deutschland, weniger Sorgen machen, als wir das derzeit medial erleben. In den letzten paar 100 Jahren sind wir aus den verschiedensten Krisen immer wieder gestärkt hervorgegangen. Eine Krise wird immer auch das Potenzial der Erneuerung haben. Das haben viele österreichische Unternehmen genützt und Krisen hervorragend gemeistert. Besser als andere europäische oder amerikanische Unternehmen. Österreich hat durch seine kleinere und wendigere Ökonomie einen Vorteil. Wir können rascher als andere reagieren, haben uns angepasst und immer wieder Nischen gefunden.