Im Gespräch MM Maschinenmarkt

DI Frank Maier: Die 4. industrielle Revolution gibt es gar nicht

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„ Ich bin der Meinung, dass wir uns nicht in einer 4. sondern immer noch in der 3. industriellen Revolution befinden.“ -

Was passiert eigentlich, wenn Maschinen anfangen Maschinen zu konstruieren? Mit dieser Frage setzte sich der polnische Schriftsteller Stanislaw Lem seinerzeit intensiv auseinander. Der Utopist und Visionär kam bei dieser Betrachtung einer maschinellen Evolution zu durchaus erschreckenden Szenarien.

Dipl.-Ing. Frank Maier, Vorstand Innovation Lenze SE, zitiert ihn gerne im Zusammenhang mit den Entwicklungen, die die Künstliche Intelligenz mit sich bringen wird. Für Maier birgt diese aber viel mehr Chancen als Risiken. Bezogen auf die allgemeine Diskussion um das Thema Industrie 4.0 hat er seine eigene Sichtweise. Der studierte Elektrotechniker ist der Ansicht, dass es gar keine 4. industrielle Revolution gibt, sondern dass wir uns immer noch in der dritten bewegen – zumindest technologisch gesehen. Denn jede industrielle Revolution sei seiner Ansicht nach durch einen technologischen Durchbruch erzeugt worden: Erst die effiziente Dampfmaschine, dann die elektrische Maschine und schließlich der Transistor, der als technische Instanz des binären Systems hochintegriert immer noch die Basis des Fortschritts der Digitalisierung bildet.

Im Rahmen einer Lenze-Veranstaltung vergangenen Herbst gab Dipl.-Ing. Frank Maier dem MaschinenMarkt Österreich Antworten – auch auf unbequeme Fragen.

MM: Herr Maier – Industrie 4.0 ist auch ein Jobkiller. Richtig oder falsch?

Dipl.-Ing. Frank Maier: Auf die Frage, ob Industrie 4.0 Arbeitsplätze kostet, antworte ich generell – na, aber hoffentlich. Denn wir müssen doch sehen, dass wir bereits jetzt einen eklatanten Fachkräftemangel haben, den wir über Bildungspolitik alleine nicht mehr aufholen können. Wir müssen also bestimmte Arbeitsschritte durch digitalisierte Prozesse
auffangen, um überhaupt noch einen reibungsfreien Betrieb aufrechterhalten zu können.

MM: Inwiefern spielt bei Lenze Digitalisierung eine Rolle?

Maier: Wenn Sie wissen möchten, wie bei Lenze Digitalisierung gelebt wird, dann müssen Sie nach Bremen kommen. Dort befindet sich seit kurzer Zeit das Dock.One – unser Innovationslabor für digitale Geschäftsmodelle der Industrie 4.0 der Lenze-Gruppe. Dort, im Stadtteil Horn-Lehe, in der Nähe der Universität und des Technologieparks, wird Zukunft
nicht nur vorgedacht, sondern kreiert. Zwischen Startups und Hightech-Unternehmen entwickeln mehr als 200 technologieaffine Menschen von encoway, einem Tochterunternehmen von Lenze, logicline und Lenze gemeinsam digitale Geschäftsmodelle für die Industrie 4.0.

MM: Was bedeutet das konkret?

Maier: Im Dock.One werden Ideen entwickelt, Prototypen gebaut, ausprobiert und angepasst. Das aus den USA stammende Prinzip des „try, fail fast, try again“ wird hier zu meiner großen Freude gelebt. Da ich, aus meiner vorherigen Tätigkeit heraus selber auch aus dem Silicon Valley komme, begrüße ich diese nun hier neu etablierte Kultur sehr. Wir kommen traditionell aus einer nicht ganz so agilen Welt, die im Übrigen bei der Entwicklung eines Getriebemotors nach wie vor ihre Berechtigung hat. In der digitalen Welt aber benötigen wir diese ganz andere Sichtweise und Herangehensweise, vor allem und gerade, weil man damit schneller lernt.

MM: Das bedeutet, wenn Projekte bzw. Ideen nicht funktionieren, werden sie zurückgestellt oder verworfen?

Maier: Ja. Und schon ist die nächste Idee an der Reihe. Das geht schnell, unkompliziert, außerhalb von vorgegebenen Prozessen und vor allem ohne Denkverbote.

MM: Inwiefern passt nun die Lenze-Strategie 2020+ in dieses Konzept?

Maier: Ich würde das anders herum formulieren: Wie passt dieses Konzept in die Lenze-Strategie 2020+? Es ist natürlich so, dass wir bei Lenze sehr intensiv über Digitalisierung nachdenken, aber wir können und dürfen unsere traditionelle Welt der Bewegung und der Automatisierung nicht vergessen. Schlussendlich ist es auch in einer hoch smarten, vernetzten Welt nicht zu leugnen, dass man zumindest einmal einen Motor braucht, um Güter von A nach B zu bewegen. Das Internet selbst bewegt physisch nichts. Der elektrische Antrieb war der technologische Kern der 2. industriellen Revolution, er hat die 3. überlebt und wird auch in einer wie immer gearteten 4. garantiert noch gebraucht. Daher verankert unsere Strategie 2020+ alle drei tragenden Säulen unseres Geschäftsmodells.

Bei der ersten Säule sprechen wir vom Bereich der Mechatronik. Hierbei handelt es sich um unser traditionelles, mehr produktorientiertes mechatronisches Geschäft, die eigentliche DNA Lenzes und schon deswegen nicht wegzudenken.  Die zweite Säule ist der Bereich Automation Systems, den wir als ganz zentrale Wachstumschance sehen. Hier wird unsere Lösungskompetenz betont, die wir uns über viele Jahre in Kundenprojekten erworben haben, wir nennen das gerne „Brainware“, und die wir jetzt in innovative Automatisierungssysteme überführen wollen.  Die dritte Säule ist schließlich die der Digitalisierung. Wobei sie bei Letzterer berücksichtigen müssen, dass dieser Bereich auch durchaus in die zwei anderen übergreift und dort zu neuen Ansätzen führt. Unser Anspruch als Unternehmen ist es, dass wir unsere Kunden in allen drei Säulen begeistern möchten, und zwar mit innovativen Digitalleistungen, mit Engineering-Kompetenz und mit einfachen Wertschöpfungsprozessen sowie auch -systemen.

MM: Das bedeutet Lenze setzt auf die Mischung „alter“ und „neuer“ Technologien?

Maier: Auf der einen Seite haben wir den Fokus auf der „Vergangenheit“ und wollen diese behalten bzw. optimieren, da wir sie ja wie erläutert immer noch benötigen. Auf der anderen Seite setzten wir eben auch auf Neues. Das Neue spielt sich zu einem großen Teil natürlich in der digitalen, in der Software-Welt ab. Gerade für KMU, die naturgemäß weniger Ressourcen haben, um Altes und Neues gleichermaßen voran zu treiben, ist es wichtig, einen Partner an ihrer Seite zu haben, mit dem sie neue Möglichkeiten erschließen können, ohne alte Fähigkeiten aufzugeben.

MM: Das bedeutet, dass Unternehmen, die nun auf das Digitalisierungspferd setzen und die „vorhandenen, etablierten“ Möglichkeiten und Produkte nicht berücksichtigen, Gefahr laufen, zu scheitern?

Maier: Richtig, das Risiko sehe ich schon. Und für uns als Unternehmen passt dieser Weg auch nicht. Allerdings sehe ich in unseren Märkten auch niemanden, der das tatsächlich ernsthaft vorhat. Wir reden eigentlich immer von einem „zusätzlich zu“, nicht einem „anstelle von“.

MM: Digitalisierung und Industrie 4.0 sind neben den technischen Herausforderungen auch politische. Welchen Einfluss haben Sie als Unternehmen Lenze auf die Politik und den Weg, der eingeschlagen wird, in puncto Industrie 4.0?

Maier: Nun ja, ich denke wir haben hier auf Bundesebene einen eher limitierten Einfluss. Aber wir sind regional betrachtet an unseren Standorten ein hoch angesehener Betrieb und haben hier einen sehr wohl intensiveren Austausch und Einfluss auf manche Entwicklungen – und wir sind durchaus gern gesehener Ansprechpartner und Ratgeber, man tauscht sich aus.

MM: Wird auch über das Thema Fachkräftemangel gesprochen?

Maier: Sicher und hier habe ich eine klare Meinung dazu. Beim jetzigen Stand der Dinge werden Sie mit keiner Bildungsinitiative der Welt den dramatischen personellen Rückstand in den kommenden Jahren auffangen können. Ich beziehe mich dabei vor allem auf die Spitze des Eisbergs, auf die Software- oder IT-Ressourcen. Auch die viel diskutierte Öffnung des Arbeitsmarktes wird dies nicht lösen, wir überschätzen hier die Attraktivität Deutschlands für diese Art von Fachkräften dramatisch. Also müssen andere Lösungen dazukommen.

MM: Was meinen Sie damit?

Maier: Wenn wir davon ausgehen, dass der Software-Bedarf steigt und die Ressourcen aber endlich sind, dann ist der Quotient daraus die Produktivität. Ergo brauche ich auch einen Quantensprung an Produktivitätssteigerung innerhalb der Software. Der größte Hebel der Softwareproduktivität ist die Wiederverwendung. Das wiederum bedeutet zum einen, ich muss meine eigene Software modular, sagen wir, besser objektorientiert, gestalten, um nicht immer wieder bei 0 anzufangen. Zum anderen müssen wir auch nicht immer alles selbst machen und stattdessen die Arbeit in der Wertschöpfungskette quasi anders verteilen. Der Kunde konzentriert sich auf die Aspekte, die seine Maschine am Markt wirklich differenzieren, Standard-Bausteine kauft er als Bibliothek, wie z.B. die Lenze FAST-Bausteine, einfach zu. Damit kommt dem Thema Partnerschaften natürlich auch eine entscheidende Rolle zu.

MM: Wo muss die Politik handeln?

Maier: Nun, das Thema Softwareproduktivität müssen wir selbst lösen, da kann uns die Politik nicht helfen. Aber das Thema Fachkräfte spielt natürlich eine ganz zentrale Rolle, das hat sich zum Glück inzwischen herumgesprochen. Und das bedeutet eben auch, dass man sehr viel in die Bildung und demnach in unsere Zukunft investieren muss. Ich betone es noch einmal: Das Thema Fachkräftemangel wird uns noch sehr stark beschäftigen, denn inzwischen sprechen wir sogar schon von einem Defizit auf Shopfloor-Ebene, dann fehlen Techniker, dann Software- und IT-Experten.

Halten wir uns folgendes vor Augen: Deutschland bildet jährlich ungefähr 20.000 Informatiker aus. Bitkom berichtet alleine von 60.000 offenen Stellen in diesem Bereich, wohlgemerkt Bitkom, ein Verband, der im Wesentlichen die großen IT-Häuser vertritt. Ich behaupte, dass wir heute schon mindestens fünf Jahrgänge Rückstand haben.

MM: Wie wird sich dieser Druck in den Unternehmen mit fortschreitender Digitalisierung weiterentwickeln?

Maier: Man muss, glaube ich, kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass sich dies weiter verschärfen wird. Wir empfinden den heutigen Druck deswegen als „Revolution“, weil der technische Fortschritt der digitalen Welt durch das Moore’sche Gesetz befeuert wird. Dieses Gesetz wurde von Gordon Moore bereits 1965 formuliert und es besagt, dass sich die Integrationsdichte von Transistoren auf einem Chip regelmäßig, heute sagen wir im Schnitt alle zwei Jahre, verdoppelt. Dies führt zu Chips wie zum Beispiel Mikroprozessoren, deren Leistungsfähigkeit sich bei gleichbleibenden Kosten alle zwei Jahre verdoppelt.

Vieles von dem, was wir heute diskutieren – Cyberphysikal Systems, 4G, 5G, Künstliche Intelligenz usw. – basiert letztlich auf diesem Prinzip. Das ist ja auch der Grund dafür, warum ich die Meinung vertrete, dass wir uns nicht in einer 4. sondern immer noch der 3. industriellen Revolution befinden. Denn jede industrielle Revolution wurde doch durch einen technologischen Durchbruch ausgelöst: Erst die effiziente Dampfmaschine, dann die elektrische Maschine und die dritte schließlich durch den Transistor. Eine Verdopplung alle zwei Jahre, das ist mathematisch gesehen eine exponentielle Funktion, das ist weit übermenschlich, der Mensch tickt linear. Daher empfinden wir unsere jetzigen Zeiten in der Tat als Revolution. Aber ich fürchte, wir werden uns daran gewöhnen müssen, solange Moore’s Law gilt, wird das so bleiben.

MM: Stehen Sie mit dieser Meinung alleine da?

Maier: Anfangs schon, ja. Aber inzwischen teilen die meisten Experten diese Ansicht, zumindest die, die aus der Technik kommen. Technisch gesehen machen wir das, was wir die letzten 50 Jahre gemacht haben. Wir nutzen die Möglichkeiten des Computers, um über Automatisierung flexiblere und produktivere Fertigung zu ermöglichen. Das ist letztlich ein evolutionärer Prozess, nur eben immer schneller.

MM: Ergo…

Maier: …begrüße ich die breite Auseinandersetzung mit diesem komplexen Thema in der Öffentlichkeit sehr – sie gehört dazu. Der Begriff Industrie 4.0 ist für mich keine industrielle Revolution und schon gar kein Software-Release. Aber es ist eine irre gute Marke, die viel bewegt hat und die auch international die Leistungsfähigkeit der Industrie unterstreicht. Und das Unternehmen Lenze von der reinen Mechatronik in die digitale Welt führen zu dürfen ist eine schöne Herausforderung und ein absolutes Privileg.


Quelle: Lenze SE

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